Der erste und der letzte Atemzug
von Pfarrerin Martina Weber
Mir werden viele kostbare Momente mit Menschen geschenkt. Oder Einblicke in Leben gewährt, die mir ohne mein Amt als Pfarrerin so verwehrt blieben. Ganz besonders kostbar finde ich es, wenn ich einen der beiden elementarsten Momente des menschlichen Lebens hier auf dieser Erde begleiten darf. Ich spreche vom Weg zum ersten oder letzten Atemzug. Ja, es ist ein Weg dahin. Vor dem ersten Atemzug steht eine Schwangerschaft und vor dem letzten Atemzug ein ganzes Leben. Beide Atemzüge sind grundlegend. Beide sind von tiefen Emotionen begleitet. Tränen. Über den Wehenschmerz. Der Freude. Der Erleichterung. Des Abschiedsschmerzes.
Beide lassen mir für einen Moment den Atem stocken. Beide ergreifen mich. Und das egal, ob ich bei einer Geburt dabei bin oder einen Menschen beim Sterben begleite. Schauen Sie einem Säugling mal beim Atmen zu. Der ganze kleine Körper hebt und senkt sich. Und auch bei sterbenden Menschen sieht oder hört man das Atmen meist besonders. Das beeinflusst automatisch mein Atmen. Und zeigt mir immer wieder, wie kostbar und wundervoll unser menschliches Dasein doch sein kann.
In Gesprächen muss ich besonders aufgeregte oder traurige Menschen immer wieder darauf hinweisen, doch erstmal tief ein- und auszuatmen und so zur Ruhe zu kommen, und manchen erbosten Menschen auch mal sagen, dass sie die Luft anhalten sollen.
In der Grundschule haben wir im Religionsunterricht ein Lied gelernt. Ich habe es mir gemerkt: „Alles, was Odem hat, lobe den HERRN, freuet euch seiner und dienet ihm gern.“ Dieses wunderbare Wort ODEM begleitet mich seither. Ich finde, es ist eines der schönsten Worte, das wir in unserer Sprache haben. ODEM. Es klingt besonders und zugleich alltäglich, aber nicht so „normal“ wie ATEM. Vielleicht ist es auch nur der Reiz, in der Schule ein neues, bisher unbekanntes Wort kennengelernt zu haben. Gottes Atem, der in uns ist. Wir atmen gewissermaßen göttlichen Atem, ganz ohne unser Zutun haben wir ein „Stück“ Gott in uns. Eine schöne Vorstellung. Gottes Atem, der belebt und erfrischt, vielleicht so, wie auf der wunderschönen Illustration von Martina Genest aus dem Urlaub zu sehen ist. Gottes Atem, der mal so richtig alles durchpustet und aufwirbelt und uns den Kopf frei macht. Gottes Atem, der irgendwann zu einem Zeitpunkt, dessen Stunde wir glücklicher Weise nicht vorhersehen können, wieder aus uns weicht.
Der Atem/Hauch Gottes, die Ruach Eloim, wird als Sinnbild für den Geist Gottes verwendet. Diese Geistkraft Gottes weht schon über den Wassern ganz zu Beginn der Bibel. Ich empfinde es als tröstlich, dass die Geistkraft Gottes uns umgibt wie die Luft, die wir einatmen und uns so durch unser gesamtes Leben begleitet, egal, wo wir hingehen. Und wie gut, dass uns der Atem mit vielen Religionen und Kulturen verbindet. Fast in allen Religionen und Kulturen gehören Atem und Seele, Atem und Leben, Atem und Göttliches zusammen. Genau so oder zumindest so ähnlich wie in der christlich-abendländischen Tradition. Wir atmen ja auch alle dieselbe Luft, vielleicht sollten wir zu Beginn komplexer Friedensverhandlungen alle erstmal tief ein- und ausatmen…